Epidemiegesetz

Gallon/Hollo/Kießling,

Epidemiegesetz.

Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung der Rechtsgrundlagen der Epidemiebekämpfung

erschienen 2023 im Nomos-Verlag (Open Access)


Frau Prof. Kießling hat zusammen mit Dr. Anna-Lena Hollo (Hannover) und Johannes Gallon (Flensburg) einen Gesetzentwurf ausgearbeitet, der einen Vorschlag für Rechtsgrundlagen für Schutzmaßnahmen im Falle einer Epidemie unterbreitet. Bei der Konzeption dieses Entwurfes wurde die Kritik der Rechtswissenschaft, die in den letzten drei Jahren an den bestehenden Rechtsgrundlagen im IfSG geäußert wurde, aufgegriffen. Der Entwurf soll als Diskussionsanstoß für eine Reform des IfSG dienen.




Anliegen und Inhalt hat Frau Prof. Kießling zusammen mit Johannes Gallon und Dr. Anna-Lena Hollo in einem Gastbeitrag auf lto.de dargestellt. Konkrete Rückfragen haben sie außerdem im Gespräch mit der NJW beantwortet. Ein ausführliches Interview mit Frau Kießling ist außerdem im UniReport Nr. 3/2023 erschienen.


Was war der Anlass für die Ausarbeitung dieses Entwurfs?


Die Idee zur Erarbeitung differenzierter Rechtsgrundlagen für die Epidemiebekämpfung kam auf, nachdem erste Entwürfe neuer Regelungskonzepte im Zusammenhang mit der Verabschiedung des Dritten Bevölkerungsschutzgesetzes im November 2020 keinen Erfolg hatten und sich die Gesetzgebungsorgane stattdessen für die Verabschiedung einer einzigen Vorschrift für alle flächendeckenden Bekämpfungsmaßnahmen (§ 28a IfSG) entschieden, die dazu noch auf die Corona-Pandemie beschränkt war. Wir halten § 28a IfSG und den späteren § 28b IfSG für zu wenig differenziert, um die hochkomplexen Entscheidungen, die während einer Epidemie getroffen werden müssen, vorzustrukturieren.

Wir entschieden uns zur Entwicklung eines eigenen Entwurfs, der als Impuls für das Gesetzgebungsverfahren dienen sollte, von dem wir glaubten, dass es spätestens 2022 in Angriff genommen werden würde. Noch wurde aber keine Reform eingeleitet.



Ist es nicht Sache der Politik Gesetzentwürfe zu erarbeiten?


Gesetze werden auf Bundesebene vom Bundestag erlassen. Ihre Verabschiedung und inhaltliche Ausgestaltung durch politische Leitlinien obliegt den politischenOrganen. Die Vorbereitung und Abfassung von Gesetzen nehmen in der Staatspraxis die Ministerien vor. Sie bedienen sich dabei Überlegungen der Legistik und der Rechtsdogmatik, die auch Gegenstand der Wissenschaft sind. Der Entwurf ist verfassungsrechtlich nicht zwangsläufig, das Epidemierecht kann auch anders ausgestaltet werden. Der Entwurf ist im Bewusstsein verfasst, dass andere Prämissen zu anderen Rechtsnormen führen. Wir haben versucht, unsere Überlegungen und Prämissen transparent zu machen. Für den Fall anderer Schwerpunktsetzungen bietet der Entwurf Regelungskonzepte und Abgrenzungen an.



Welche Art von Maßnahmen regelt der Entwurf?


Der Entwurf schlägt Rechtsgrundlagen für sogenannte Schutzmaßnahmen zur Epidemiebekämpfung vor. Dabei handelt es sich um Maßnahmen, die in unterschiedlichen Lebensbereichen eingesetzt werden können, um die Ausbreitung eines Krankheitserregers einzudämmen, also beispielsweise Maskenpflichten, Beschränkungen von Veranstaltungen, Vorgaben für den Einzelhandel, für Schulen, Kitas und Pflegeheime, Beschränkungen des Reise- und des Warenverkehrs.



Was regelt der Entwurf nicht?


Nicht enthalten sind zum einen besonders eingriffsintensive Maßnahmen bzw. Maßnahmen, über die unserer Meinung nach nur in einer konkreten Epidemie unter Berücksichtigung der jeweiligen Umstände entschieden werden kann. Das sind z.B. Ausgangsbeschränkungen und Impfpflichten. Zum anderen gibt es viele Regelungsbereiche, die zwar unserer Meinung nach neu aufgestellt werden sollten, bei denen es aber nicht um Schutzmaßnahmen geht, z.B. Fragen der Entschädigung, Bußgeldvorschriften und Kontroll- und Vollzugsvorschriften.



Wieso regelt der Entwurf Maßnahmen wie Schulschließungen und Betretungsverbote für Pflegeheime?


Einzelne Maßnahmen, die in der Corona-Pandemie ergriffen wurden, sind heute aufgrund des Verhältnisses von epidemiologischer Wirksamkeit und Nebenfolgen umstritten. Es ist aber nicht ausgeschlossen, dass sie in einer Epidemie eines anderen Erregers zum Einsatz kommen müssten, so dass wir sie in unseren Entwurf aufgenommen haben. Damit sie nicht vorschnell, sondern nur im Notfall ergriffen werden, haben wir uns entschieden, hohe Hürden für diese Maßnahmen vorzuschlagen, die so auch Niederschlag in den von uns formulierten Ermächtigungsgrundlagen gefunden haben.



Worin unterscheidet sich der Entwurf von den bestehenden Regelungen und den aus der Corona-Pandemie bekannten Maßnahmen?


Der Entwurf verzichtet zunächst auf das Erfordernis der Feststellung der „epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ durch den Bundestag oder einen ähnlichen Beschluss. Wie im sonstigen Verwaltungsrecht auch müssen bestimmte Voraussetzungen für ein Tätigkeitwerden der Behörden vorliegen, das überprüfen die Behörden aber selbst; die Verwaltungsgerichte wiederum können diese Entscheidungen kontrollieren.


Als Voraussetzungen regelt unser Entwurf drei unterschiedliche Stufen, die zu unterschiedlich einschneidenden Maßnahmen berechtigen: Wenn eine Epidemie vorliegt, können moderate Maßnahmen ergriffen werden (etwa die Beschränkung der Anzahl an Personen, die sich in Geschäften aufhalten dürfen, oder die Pflicht zur Erfassung der Kontaktdaten von Personen); eingriffsintensivere Maßnahmen wie die Schließung von Geschäften dürfen erst bei einer schweren Epidemie ergriffen werden. 

Damit aber auch verhindert werden kann, dass eine Epidemie überhaupt entsteht („drohende Epidemie“), kann z.B. die Einhaltung eines Mindestabstands zu haushaltsfremden Personen noch etwas früher als bei der hier beschriebenen ersten Stufe eingesetzt werden. Die unterschiedlichen Voraussetzungen dieser drei Stufen definiert der Entwurf in einer eigenen Vorschrift.


Wichtiges Merkmal des Entwurfs ist außerdem, dass die Voraussetzungen für viele unterschiedliche Lebensbereiche detailliert ausbuchstabiert werden: Zwar mögen manche Maßnahmen bei manchen Erregern in nahezu allen Lebensbereichen sinnvoll sein (wie etwa eine Maskenpflicht bei einem Atemwegserreger), etwaige Ausnahmen regelt unser Entwurf aber ausdrücklich. Für andere Maßnahmen ist eine solche Allgemeingültigkeit von vornherein nicht gegeben. Auch die besondere Belastung bestimmter Personengruppen muss sich in unterschiedlichen Regelungen ausdrücken. Deswegen haben wir jeweils eigene Vorschriften etwa für Krankenhäuser, Pflegeheime, Schulen, Kitas und Geschäfte entworfen.


Der Entwurf ist darüber hinaus nicht auf einen einzelnen Krankheitserreger beschränkt, wie dies in der Corona-Pandemie der Fall war. Die Regelungen können z.B. sowohl für Atemwegserreger als auch für Durchfallerreger angewandt werden. Welche Maßnahme für die Eindämmung welches Erregers geeignet ist, muss dann im Einzelfall entschieden werden.


Wären in Zukunft auf Basis der entworfenen Rechtsgrundlagen „Lockdowns“ möglich?


Das ist grundsätzlich denkbar, aber unter im Vergleich zur Corona-Pandemie verschärften Voraussetzungen, beispielsweise für Schulen. Dass ein Lockdown insbesondere nicht im Falle eines harmlosen Schnupfenerregers möglich ist, gewährleistet der Begriff „Epidemie“, der nur bedrohliche übertragbare Krankheiten und ein bestimmtes (dynamisches) Ausbreitungsausmaß umfasst. Deswegen ist auch bei den jährlichen Grippewellen ein Lockdown nach unserem Entwurf ausgeschlossen.

Kontakt

Professur für Öffentliches Recht, Sozial- und Gesundheitsrecht und Migrationsrecht

Prof. Dr. Andrea Kießling

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