Internationalem Forschungsteam aus Frankfurt und New York gelingt Strukturaufklärung eines Biomoleküls, mit dem Caenorhabditis elegans Gefahren erkennt
Der kleine Fadenwurm Caenorhabditis elegans meidet das Licht. Zwar besitzt er keine Augen, dafür jedoch in bestimmten Zellen ein Protein namens LITE-1. Es warnt ihn vor der Sonne, deren Strahlen für das Tier gefährlich sind. Die Struktur von LITE-1 hat jetzt ein Wissenschaftsteam von der Goethe-Universität Frankfurt, dem Max-Planck-Institut für Biophysik und dem Flatiron Institute der Simons Foundation in New York aufgeklärt: LITE-1 ist eine gänzlich neue Art eines lichtgesteuerten Ionenkanals. Anstelle von biochemischen Experimenten nutzten die Forscher:innen eine künstliche Intelligenz zur Strukturaufklärung und überprüften das Strukturmodell mit biologischen Experimenten.
FRANKFURT. In
einem Komposthaufen findet der Fadenwurm Caenorhabditis elegans einen
reich gedeckten Tisch: Der nur einen Millimeter lange Wurm ernährt sich von
Bakterien, die organisches Material zersetzen. Das Sonnenlicht muss das Tier
dabei strikt meiden, nicht nur damit es in seinem Temperaturoptimum bleibt und
nicht austrocknet. Blaues Licht und UV-Licht sind energiereich und richten in
den Zellen des durchsichtigen Wurms großen Schaden an: Das Erbmolekül DNA kann
mutieren, oder es entstehen reaktive Sauerstoffverbindungen wie
Wasserstoffperoxid (H2O2), die zum Beispiel die korrekte
Herstellung von Proteinen verhindern und Zellen in den Tod treiben können. Im
Labor lässt sich daher beobachten, dass Caenorhabditis elegans
reflexartig vor einem Lichtkegel zurückweicht.
Augen besitzt der Fadenwurm nicht, er verfügt jedoch in einigen
sensorischen Nervenzellen über das Protein LITE-1. Es setzt auf bislang
unbekannte Weise Lichtsignale in biochemische Signale um, die letztlich die
Fluchtbewegung auslösen. Struktur und Funktionsweise von LITE-1 haben jetzt
Wissenschaftler:innen um Prof. Alexander Gottschalk von der Goethe-Universität
Frankfurt, Prof. Gerhard Hummer vom Max-Planck-Institut für Biophysik sowie der
Goethe-Universität und Dr. Sonya Hanson vom Flatiron Institute in New York
aufgeklärt. Dafür nutzte das Wissenschaftsteam die Software
„AlphaFold2-Multimer“, eine künstliche Intelligenz, die Struktur von Proteinen
und Proteinkomplexen anhand der Abfolge ihrer Aminosäure-Bausteine vorhersagen
kann. Das Ergebnis: LITE-1 ist ein Protein in der Zellmembran, das eine Art
Pore bildet, durch die geladene Teilchen – Ionen –die Membran passieren können,
ein sogenanntes Kanalprotein.
„Die KI hat wirklich sehr gut funktioniert und eine plausible
Struktur für LITE-1 vorgeschlagen“, sagt Alexander Gottschalk. „In genetischen
Experimenten haben wir dann überprüft, ob Vorhersagen, die sich aus dieser
Struktur ergeben, sich auch bei Untersuchungen des Fadenwurms und seiner
Reaktion auf Licht wiederfinden lassen.“ Dazu schalteten die Forscher:innen
gezielt einzelne Strukturelemente in LITE-1 aus und beobachteten die Folgen auf
das lichtinduzierte Verhalten. So führten unter anderem der Austausch von Aminosäuren,
die den Kanal bilden, zu einem kompletten Funktionsverlust von LITE-1. Weitere
Mutationsexperimente zeigten Stellen auf, an denen das Protein mit H2O2
wechselwirken könnte und offenbarten eine zentrale Aminosäure, die offenbar für
die Aufnahme von Energie durch UV-Licht verantwortlich ist.
Gerhard Hummer erläutert: „Es scheint, als ob LITE-1 ein ganzes
Netzwerk an Aminosäuren enthält, die ausgerichtet sind wie Antennen, um die
Energie der UV-Photonen aufzufangen und an eine zentrale Position im Protein
weiterzuleiten. Dort befindet sich ein Hohlraum, der als Bindetasche für ein
Molekül dienen könnte, das Photonen beziehungsweise deren Energie aufnehmen
kann, ein sogenanntes Chromophor.“ Dem Modell der Forscher:innen zufolge wird
dieses noch unbekannte Chromophor zusätzlich von blauem Licht direkt angeregt
und überträgt die gesamte Energie dann auf das LITE-1-Protein, was zur Öffnung
des Ionenkanals und dem Einströmen von Ionen in die Zelle führt. Die höhere
Ionenkonzentration ist der Startpunkt für ein biochemisch-elektrisches Signal,
das schließlich den Fluchtreflex auslöst.
Dabei spielt offenbar eine Rolle, ob auch durch das Licht
gebildetes H2O2 in den Zellen vorhanden ist, so Alexander
Gottschalk: „Die zusätzliche Aktivierung von LITE-1 durch H2O2
stellt sicher, dass der Fluchtreflex nicht von schwachem Licht ausgelöst wird,
sondern nur von sehr intensivem, gewebeschädigendem Licht wie direkter
Sonnenstrahlung.“
LITE-1 stellt eine sehr einfache Form der Lichtwahrnehmung dar.
Vergleiche mit Geruchsrezeptoren von Insekten legen nahe, so Gottschalk, dass
LITE-1 von einem solchen Geruchsrezeptor abstammt, der vielleicht zufällig ein
Molekül gebunden habe, das auch Licht absorbieren konnte und damit zusätzlich
zu einem unangenehmen Geruch auch ein Warnsignal vor schädlichem Licht
weitergegeben habe.
Gottschalk unterstreicht die Bedeutung dieses Rezeptors auch für
das Forschungsgebiet der mit der Entdeckung und Beschreibung des ersten
lichtabhängigen Ionenkanals – eines Kanalrhodopsins – in Frankfurt
mitbegründeten Optogenetik, also der Möglichkeit, zur Untersuchung zellulärer
Funktionen lichtgesteuerte Schalter in Zellen einzusetzen: „LITE-1 und ähnliche
Proteine, die wir ebenfalls analysiert haben, lassen sich als neue
optogenetische Werkzeuge einsetzen, mit denen wir das Spektrum in den
UV-Bereich erweitern können.“ Die Bioinformatikerin Sonya Hanson sieht in der
Forschungsmethodik großes Potenzial für die Zukunft: „Die von uns eingesetzte
KI ist inzwischen so gut, dass wir möglicherweise künftig auch bei anderen
Proteinen auf aufwändige biochemische Arbeit verzichten können, zumindest um
eine Idee zu erhalten, wie ein bestimmtes Protein funktioniert.“
Publikation: Sonya
M. Hanson, Jan Scholüke, Jana Liewald, Rachita Sharma, Christiane Ruse, Marcial
Engel, Christina Schüler, Annabel Klaus, Serena Arghittu, Franziska Baumbach,
Marius Seidenthal, Holger Dill, Gerhard Hummer, Alexander Gottschalk: Structure-function
analysis suggests that the photoreceptor LITE-1 is a light-activated ion
channel. Current
Biology (2023), https://doi.org/10.1016/j.cub.2023.07.008
Hintergrund Optogenetik:
Ein kleiner Wurm – Liebling der Optogenetiker. Forschung Frankfurt
2/2015
https://www.forschung-frankfurt.uni-frankfurt.de/59324382/FoFra_2015_2_Licht_in_der_Zelle_Ein_kleiner_Wurm-Liebling_der_Optogenetiker.pdf
Bilder zum Download:
www.uni-frankfurt.de/141166470
Bildtext: Das neuartige Photosensor-Protein LITE-1 des Fadenwurms Caenorhabditis
elegans reagiert als Gefahrensensor auf UV- und Blaulicht. LITE-1 ist ein
lichtgesteuerter Ionenkanal und nach dem seit langem bekannten Kanalrhodopsin
von Algen die zweite Form eines lichtgesteuerten Ionenkanals, der bislang
entdeckt wurde.
LITE-1-multicolored: Alexander Gottschalk,
Goethe-Universität Frankfurt
LITE-1-bronze: Lucy Reading-Ikkanda/Simons
Foundation
Weitere Informationen
Prof.
Dr. Alexander Gottschalk
Professor für zelluläre und molekulare Neurobiologie
Institut für Biophysikalische Chemie und Buchmann Institut
Goethe-Universität Frankfurt
Tel. +49 (0)69 798-42518
a.gottschalk@em.uni-frankfurt.de
https://www.bmls.de/Cellular_and_Molecular_Neurobiology/aboutus.html
https://www.uni-frankfurt.de/69793125/Molecular_Membrane_Biology_and_Neurobiology
Prof. Dr. Gerhard Hummer
Max-Planck-Institut für Biophysik und
Institut für Biophysik der Goethe-Universität Frankfurt
Tel. +49 (0)69 6303 2501
gerhard.hummer@biophys.mpg.de
https://www.biophys.mpg.de/theoretical-biophysics
Sonya M. Hanson, Ph.D.
Center for Computational Biology
Center for Computational Mathematics
Flatiron Institute
New York, USA
shanson@flatironinstitute.org
https://www.simonsfoundation.org/structural-and-molecular-biophysics-collaboration/
Twitter: @GWormlab @sonyahans @goetheuni
@SimonsFdn @MPIbp
Redaktion: Dr. Markus Bernards, Referent für
Wissenschaftskommunikation, Büro für PR & Kommunikation, Telefon 069 798-12498, Fax
069 798-763-12531, bernards@em.uni-frankfurt.de