Urteilen / Entscheiden

Gunther Teubner / Rudolf Wiethölter / Malte Gruber

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Im Wintersemester 2008/2009 veranstalten wir mittwochs von 10:15 – 11:45 Uhr in Raum RuW 2.101 (Campus Westend)
ein rechtstheoretisches Seminar zum Thema:

Urteilen / Entscheiden
 

Eine Entscheidung treffen, ein Urteil fällen – nichts einfacher als das, mag es jedenfalls in entscheidenden Augenblicken scheinen. Gerne wird der bekannte Satz zitiert: Alles in der Welt kommt auf einen gescheiten Einfall und auf einen festen Entschluss an (Goethe). Doch was soll geschehen, wenn die Entschlusskraft schwindet, die Einfälle ungewiss werden, die günstigen Gelegenheiten für Entscheidungen ausbleiben? 
Die Falschheit eines Urtheils ist uns noch kein Einwand gegen ein Urtheil (Nietzsche). Urteile werden dann zumindest noch immer als wahr geglaubt. Sie werden auch weiterhin gefällt, nun allerdings im buchstäblichen Sinn: In der Begegnung mit den Aporien der Gerechtigkeit werden Sie „zu Fall gebracht“. Deren Forderung nach einer freien, von Regeln unabhängigen, aber zugleich regelgeleiteten Entscheidung, die über das Unentscheidbare (mit-)befinden und eine Regel neu erfinden muss, ist möglicherweise auf eine unmögliche Leistung gerichtet, die allenfalls im Augenblick der Dringlichkeit oder Überstürzung erfüllbar ist (Derrida). Ist dieser endliche Augenblick der Entscheidung daher ein von Nicht-Wissen und Nicht-Regelung umnachteter Wahn (Kierkegaard)? 
Im Moment des „Zu-Fall-Bringens“ eines Urteils könnte die Paradoxie der Entscheidung (Luhmann) aber auch unsichtbar werden und die hermeneutische Perspektive freigeben: Das Urteil wird dann vielmehr „zum Fall gebracht“, der Fall entsprechend „normgerecht“ gemacht. Doch ist die Paradoxie dann keineswegs verschwunden, sondern nur ins „Vorurteil“ (Gadamer) oder „Vorverständnis“ (Esser) verlagert. Sollte es allerdings gelingen, solche Vorurteile rational zu rekonstruieren (Habermas), könnte das Ideal der konsistenten und zugleich legitimen Entscheidung rehabilitiert werden. 
Doch selbst wenn die rationale Rekonstruktion schließlich an Derridas Gespenst der Unentscheidbarkeit scheitern sollte, mag sich Kontingenz noch immer mit Mitteln bezwingen lassen, die über die bloße autoritäre Beseitigung des Zweifels (Schmitt) hinausreichen: Es ist das alte Lied vom Gesetz (Fögen), das Entscheidungen und Urteile nicht alleine im Medium rationaler Kommunikation vernehmbar macht, sondern auch ästhetische, (rechts-)affektive, womöglich sogar irrationale Töne anstimmt. Das nicht zuletzt von Cornelia Vismann und Thomas Weitin (Hrsg.), Urteilen / Entscheiden (2006), inspirierte Mittwochseminar soll die folgenden Themen behandeln:

 

1. Termin: 22.10.2008: Juristischer Diskurs
Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt 1992, Kap. V, 238-291.

2. Termin: 29.10.2008: Dezisionismus I
Carl Schmitt, Gesetz und Urteil [1912], 2. Auflage, München 1969, 71-119.

3. Termin: 5.11.2008: Dezisionismus II
Andreas Fischer-Lescano / Ralph Christensen, Auctoritatis interpositio. Die Dekonstruktion des Dezisionismus durch die Systemtheorie, Der Staat 2005, 213-242.

4. Termin: 12.11.2008: Vor-Urteil / Hermeneutik
Josef Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, Frankfurt am Main 1972, 116-176.

5. Termin: 19.11.2008: Rechtsgefühl I
Rudolf von Jhering, Ueber die Entstehung des Rechtsgefühles [1884], Neapel 1986, 3-54.

6. Termin: 26.11.2008: Rechtsgefühl II
Thomas Weitin, Der Geschmack des Gerichts. Zur Urteilsproblematik in Heinrich von Kleists Der zerbrochne Krug, in: Cornelia Vismann / Thomas Weitin (Hg.), Urteilen / Entscheiden, München 2006, 217-235.

7. Termin: 3.12.2008: Rechtsgefühl III
Martha C. Nussbaum, Upheavals of thought. The intelligence of emotions, Cambridge (UK) 2001, 401-454.

8. Termin: 10.12.2008: Ästhetische Urteile
Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Werkausgabe Band X, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main 1968/1992, A III-LVIII / B III-LX (S. 73-111).

9. Termin: 17.12.2008: Paradoxien der Entscheidung
Niklas Luhmann, Organisation und Entscheidung, Opladen / Wiesbaden 2000, 123-151.
Søren Kierkegaard, Furcht und Zittern [1843], 2. Auflage, Frankfurt am Main 1988, 11-22 („Stimmung“).

10. Termin: 14.1.2009: Aporien
Christoph Menke,  Subjektive Rechte: Zur Paradoxie der Form, Zeitschrift für Rechtssoziologie 29 (2008), 81-108.

11. Termin: 21.1.2009:  Selbsttranszendierung des Rechts
Gunther Teubner, Selbstsubversive Gerechtigkeit: Kontingenz- oder Transzendenzformel der Rechts?, Zeitschrift für Rechtssoziologie 29 (2008), 9-36.

12. Termin: 28.1.2009: Rhetorik 
Fabian Steinhauer, Derrida, Luhmann, Steinhauer: Über Dekonstruktion, System und Rhetorik, Zeitschrift für Rechtssoziologie 29 (2008), 167-190.

13. Termin: 4.2.2009: Poesie I
Marie Theres Fögen, Das Lied vom Gesetz, München 2007, 9-73.

14. Termin: 11.2.2009: Poesie II
Marie Theres Fögen, Das Lied vom Gesetz, München 2007, 74-132.

 

Organisatorisches:
Das Seminar wird im Wintersemester 2008/2009 mittwochs, 10.00 c.t. bis 11.45 Uhr, stattfinden. Bitte beachten Sie neben der geänderten Uhrzeit auch den neuen Veranstaltungsort im Campus Westend: Seminarraum RuW 2.101 (zweiter Stock!). Das Seminar gilt als Schwerpunktbereichsveranstaltung für den Schwerpunktbereich Grundlagen des Rechts (SPB 3). Ein detaillierter Seminarplan wird rechtzeitig vor Veranstaltungsbeginn über die Homepage der Professur
(http://www.jura.uni-frankfurt.de/ifawz1/teubner/index.html) bekannt gegeben. Den Seminarreader können Sie gegen Ende der Semesterferien im Kopierwerk, Adalbertstrasse 21a, erhalten. Einen Leistungsnachweis kann erwerben, wer nach Absprache mit den Dozenten neben einer kurzen Einführung zu einer Sitzung („Impuls“) eine schriftliche Arbeit zu einem der Texte oder ei¬ner übergreifenden, seminarbezogenen Fragestellung anfertigt. Die Arbeit sollte ca. 15 Seiten haben und mit einem wissenschaftlichen Fußnotenapparat sowie einer Bibliographie versehen sein.
Die Teilnehmerzahl ist begrenzt. Eine aus diesem Grund eventuell erforderliche Auswahl der Seminarteilnehmer wird nach Maßgabe des Studienfortschritts sowie der bisherigen Studienleistungen und -interessen vorgenommen werden. Zur Anmeldung zum Seminar und zur Vormerkung für eine der etwa zehn- bis fünfzehnminütigen Einführungen ("Impulse") in den für die betreffende Sitzung angegebenen Text wenden Sie sich bitte an Dr. Malte Gruber, Zi. 318 (Juridicum), oder schreiben Sie eine E-Mail an <gruber@jur.uni-frankfurt.de>.