Fluchtlinien der Politischen Ökonomie

Isabel Feichtner / Malte Gruber / Rudolf Wiethölter

Treppauf treppab (Escher)

Im Sommersemester 2015 veranstalten wir
mittwochs von 16.15 - 17.45 Uhr in Raum RuW 2.102 (Campus Westend)
ein rechtstheoretisches Seminar (SPB 1 und 3) zum Thema:

Fluchtlinien der Politischen Ökonomie

Nach juristischem Verständnis bezeichnen Fluchtlinien die Grenzen, entlang derer bauliche Konstruktionen anzuordnen sind. Eine andere Bedeutung haben Fluchtlinien in Geometrie und Kunst: Sie bündeln sich in einem perspektivischen Fluchtpunkt, auf den sich das Auge eines Beobachters richtet. Eine dritte Bedeutung, nach welcher Fluchtlinien als Fluchtbewegungen von Menschen aufgefasst werden, dürfte schließlich dem gesellschaftlichen Alltagsverständnis dieses Begriffs am nächsten kommen.

In geradezu entsprechender Weise spannt auch die Politische Ökonomie den Rahmen dessen, was das heutige juristische Denken beherrscht. Dabei begegnet die traditionelle Unterscheidung von klassischer Nationalökonomie, marxistischer Kritik der Politischen Ökonomie und „Neuer Politischer Ökonomie“ einer wachsenden Zahl von erneuerten politisch-ökonomischen Theorien, die als Gesellschaftstheorien keine schlichten Varianten von Utilitarismus, (Neo-)Marxismus oder Public Choice darstellen. Sie beschränken sich auch nicht mehr auf das ökonomische Menschenbild des rationalen Nutzenmaximierers. Der Homo oeconomicus, sei es der „politische“ oder „entdeckende Unternehmer“ (Wiethölter), sei es das „unternehmerische Selbst“ (Bröckling), erscheint ihnen allenfalls noch als partikular gültiges Modell.

Damit lösen sich auch die bisherigen Bindungen und Grenzbestimmungen der Politischen Ökonomie – anders ausgedrückt: ihre Fluchtlinien verflüchtigen sich. In der üblicherweise genannten Trias Wirtschaft/Politik/Gesellschaft gewinnt somit vor allem das Gesellschaftliche wieder an Bedeutung. Längst bezieht die internationale Politische Ökonomie auch die Human Sciences und Humanities in ihre Theoriebildungen ein, und mit ihnen nicht zuletzt: Recht, das sich nicht in Law as Economics erschöpft. Solche „humanisierenden“ Theorien, in denen sich die von außen induzierten, (selbst )kritischen Potentiale der Politischen Ökonomie zeigen und deren Verhältnis zur Rechtstheorie neu justieren, bilden den Gegenstand des Seminars. Sie sollen von ihren Ursprüngen in der schottischen Moralphilosophie bis in die gegenwärtigen Debatten über „Geschichtsphilosophische Grundlagen“, „Leidenschaften, Interessen und Doktrinbildungen“, „Geld und Kredit“, „Unternehmen“, „Wissenschaft und Technologie“ sowie „Wirtschaftsglobalisierung“ nachverfolgt werden.


I. Geschichtsphilosophische Grundlagen

1. Termin (15.4.2015): Rechtsphilosophie und Politische Ökonomie
a) Adam Smith, The Wealth of Nations, 1776, Buch IV, Kapitel 1., 8., 9.
b) Heinz-Dieter Kittsteiner, Naturabsicht und unsichtbare Hand. Zur Kritik des geschichtsphilosophischen Denkens, 1980, S. 190-221 und 267 f.
c) Historisches Wörterbuch der Philosophie, Art. „Politische Ökonomie“.

Hintergrundliteratur:
Adam Smith, Theory of Moral Sentiments, 1759; Verena Artz/ Michael Hüther (Hg.) Klassiker der Ökonomie – Von Adam Smith bis Amartya Sen, Bonn und Berlin (bpb) 2006; Peter Behrens, Die ökonomischen Grundlagen des Rechts. Politische Ökonomie als rationale Jurisprudenz, 1986; Daniel Brühlmeier, Die Rechts- und Staatslehre von Adam Smith und die Interessentheorie der Verfassung, 1988; Lisa Herzog, Inventing the Market. Smith, Hegel, and Political Theory, 2013; Franz-Xaver Kaufmann/ Hans-Günter Krüsselberg (Hg.), Markt, Staat und Solidarität bei Adam Smith, 1984; Klaus Mathis, Effizienz statt Gerechtigkeit? Auf der Suche nach den philosophischen Grundlagen der Ökonomischen Analyse des Rechts, 2009; Rudolf Wiethölter, Ist unserem Recht der Prozeß zu machen?, in: Axel Honneth, Thomas McCarthy, Claus Offe und Albrecht Wellmer (Hrsg.), Zwischenbetrachtungen. Im Prozeß der Aufklärung. Jürgen Habermas um 60. Geburtstag, 1989, S. 794-812; Joscha Wullweber/ Antonia Graf/ Maria Behrens (Hg.), Theorien der Internationalen Politischen Ökonomie, 2014.

2. Termin (22.4.2015): Versuch über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft
Zwi Batscha / Hans Medick: Einleitung, in: dies (Hg.), Adam Ferguson, Versuch über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt 1986, S. 7-91.

Hintergrundliteratur:
Adam Ferguson, Versuch über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft (1767), Frankfurt 1986; Hans Medick, Naturzustand und Naturgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft. Die Ursprünge der bürgerlichen Sozialtheorie als Geschichtsphilosophie und Sozialwissenschaft bei Samuel Pufendorf, John Locke und Adam Smith, 1973.

3. Termin (29.4.2015): Kritische Politische Ökonomie
a) Karl Marx, Kritik der Politischen Ökonomie, MEW XIII, S. 7-11.
b) Friedrich Engels, Rezension, MEW XIII, S. 468-479.
c) Karl Marx, Einleitung, MEW XIII, S. 615-642.

Hintergrundliteratur:
Karl Marx, Das Kapital, 1. Bd. (1890), 8. Kapitel, Der Arbeitstag; David Harvey, A Companion to Marx’s Capital, 2010, 5. Kapitel, The Working Day; Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse (1820), Werke VII, [System der Bedürfnisse]; ders., Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, seine Stelle in der praktischen Philosophie und sein Verhältnis zu den positiven Rechtswissenschaften (1802), Werke II; Michel Foucault, Die Wahrheit und die juristischen Formen, 2003, S. 9-28 und 52-87; Ulrich Bröckling, Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, 2007.


II. Leidenschaften, Interessen und Doktrinbildungen

4. Termin (6.5.2015): Politische Begründungen des Kapitalismus
Albert O. Hirschman, Leidenschaften und Interessen. Politische Begründungen des Kapitalismus vor seinem Sieg, 2010, S. 17-65 und 79-121.

Hintergrundliteratur:
Albert O. Hirschman, Leidenschaften und Interessen. Politische Begründungen des Kapitalismus vor seinem Sieg, 2010, Teil III; ders., Engagement und Enttäuschung. Über das Schwanken der Bürger zwischen Privatwohl und Gemeinwohl, 1988.

5. Termin (13.5.2015): Politik und Politische Ökonomie
Gunnar Myrdal, Das politische Element in der nationalökonomischen Doktrinbildung, 2. Auflage 1976, Kapitel 2, 5.

Hintergrundliteratur:
Richard Swedberg, Introduction in: Gunnar Myrdal, The Political Element in the Development of Economic Theory (Transaction Publishers 1990); Albert O.Hirschman, Morality and the Social Sciences: A Durable Tension, in: Hirschman, Essays in Tresspassing. Economics to Politics and Beyond, 1981, S. 294-306.


III. Geld und Kredit

6. Termin (20.5.2015): Geld als Kredit
a) Mitchell Innes, What is Money? In: Credit and State Theories of Money: The Contributions of A. Mitchell Innes, 2004, S. 14-39.
b) Adam Smith, The Wealth of Nations, 1776, Buch I, Kapitel IV.
Hintergrundliteratur:
David Graeber, Debt: The First 5000 Years, 2012; Frank Decker, On the Economic Importance of Ownership and Security: Claims to Property as a Foundation of Monetary Systems, 2014; Fernando Pessoa, Ein anarchistischer Bankier, 1986.


IV. Unternehmen

7. Termin (27.5.2015): Die Stadt als Unternehmen
a) Gerald Frug, ‘A Legal History of Cities’ in N Blomley et al (eds), The Legal Geographies Reader, 2001, S. 154.
b) Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, hrsg. von Johannes Winckelmann, 5. rev. Aufl., Tübingen 1980, S. 727-741, Kapitel IX.: Soziologie der Herrschaft, 7. Abschnitt. Die nichtlegitime Herrschaft (Typologie der Städte).

Hintergrundliteratur:
Saskia Sassen, Territory, Authority, Rights: Fom Medieval to Global Assemblages, 2006, Kapitel 2.

8. Termin (3.6.2015): Ordnungsökonomie
Ernst-Joachim Mestmäcker, Wirtschaftsordnung und Geschichtsgesetz, in: Ludwig-Erhard-Stiftung (Hg.), Wirtschaftsordnung als Aufgabe. Zum 100. Geburtstag von Franz Böhm, 1995, S. 111-136.

Hintergrundliteratur:
Rudolf Wiethölter, Franz Böhm (1895-1977), in: B. Diestelkamp/M. Stolleis (Hrsg.) Juristen an der Universität Frankfurt am Main, 1989, S. 208.

9. Termin (10.6.2015): Unternehmensverantwortung
Doreen Lustig, The Nature of the Nazi State and the Question of International Criminal Responsibility of Corporate Officials at Nuremberg. Revisiting Franz Neumann’s Concept of Behemoth at the Industrialist Trials, 43 NYU J Int’l L & Politics (2011) 965.

Hintergrundliteratur:
Raymond Vernon, Sovereignty at Bay, 1973.


V. Wissenschaft und Technologie

10. Termin (17.6.2015): Soziotechnologische Koproduktion
Sheila Jasanoff, Ordering knowledge, ordering society. In: States of knowledge: the co-production of science and social order, 2004, S. 13-45.

Hintergrundliteratur:
Sheila Jasanoff, Future Imperfect: Science, Technology, and the Imaginations of Modernity, abrufbar unter: http://www.harvardiglp.org/wp-content/uploads/2014/10/Jasanoff-Ch-1.pdf; dies., Science and public reason, 2012; dies., Designs on nature: science and democracy in Europe and the United States, 2005; dies. (ed.), Handbook of science and technology studies, 1995; Dirk Baecker, Studien zur nächsten Gesellschaft, 2007; Edward J. Hackett (ed.), The handbook of science and technology studies, 3rd ed. 2008; Roger Häußling, Techniksoziologie, 2014; Bruno Latour, Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, 2008; ders., Das Parlament der Dinge. Für eine politische Ökologie, 2001; ders., Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, 2007; Diana Lengersdorf/ Matthias Wieser (Hg.), Schlüsselwerke der Science & Technology Studies, 2014; Michel Foucault, Die Wahrheit und die juristischen Formen, 2003, S. 9-28 und 52-87; Ulrich Bröckling, Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, 2007.

11. Termin (24.6.2015): Genetischer Biokapitalismus
Rosi Braidotti, Zur Transposition des Lebens im Zeitalter des genetischen Biokapitalismus, in: Martin G. Weiß (Hg.), Bios und Zoë. Die menschliche Natur im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit, 2009, S. 108-135.

Hintergrundliteratur:
Rosi Braidotti, The Posthuman, 2013; dies., Transpositions: on nomadic ethics, 2006; dies., Meta-morphoses: towards a materialist theory of becoming, 2002; Giorgio Agamben, Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, 2007; Friedrich Balke/ Joseph Vogl (Hg.), Gilles Deleuze – Fluchtlinien der Philosophie, 1996; Gilles Deleuze/ Félix Guattari, Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I, 1977; dies., Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, 1997; Donna J. Haraway, Modest_Witness@Second_Millennium. FemaleMan©_Meets_ OncoMouse™. Feminism and Technoscience, 1997; Sheila Jasanoff (ed.), Reframing rights: bioconstitutionalism in the genetic age, 2011; Paul Rabinow, Anthropologie der Vernunft. Studien zu Wissenschaft und Lebensführung, 2004.


VI. Wirtschaftsglobalisierung

12. Termin (1.7.2015): Imperiale Geographie
a) Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft – Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus, München 1986; II Imperialismus, Die politische Emanzipation der Bourgeoisie, Expansion und der Nationalstaat, S. 286-308.
b) Saskia Sassen, Territory, Authority, Rights: From Medieval to Global Assemblages, 2006, Kapitel 3.

Hintergrundliteratur:
Albert O. Hirschman, On Hegel, Imperialism and Structural Stagnation, in: Hirschman, Essays in Tresspassing. Economics to Politics and Beyond, 1981, S. 167; David Harvey, Spaces of Global Capitalism: Towards a theory of uneven geographical development, 2006; Immanuel Wallerstein, World-Systems Analysis, 2007; Adam Smith, The Wealth of Nations, 1776, Buch IV.

13. Termin (8.7.2015): Politik des Interesses im Völkerrecht
a) Mónica García-Salmones Rovira, The Politics of Interest in International Law, 25 EJIL (2014) 765.
b) Martti Koskenniemi, International Law and the Emergence of Mercantile Capitalism, in: P-M Dupuy & V Chetail (eds), The Roots of International Law / Les fondements du droit international: Liber Amicorum Peter Haggenmacher (2013), S. 3-37.

Hintergrundliteratur:
Roberto Unger, Free Trade Reimagined. The World Division of Labor and the Method of Economics, 2010; David Kennedy, Law and the Political Economy of the World, 26 Leiden Journal of International Law (2013) 7-48; Sundhya Pahuja, Decolonizing International Law, 2013.


Organisatorisches:

Die Veranstaltung wird im Sommersemester 2015 – beginnend am 15.4.2015 – mittwochs, 16.00 c.t. bis 17.45 Uhr in Seminarraum RuW 2.102 (2. OG) stattfinden. Das Seminar gilt als Schwerpunktbereichsveranstaltung für den Schwerpunktbereich Grundlagen des Rechts (SPB 3). Studierende der Geistes- und Sozialwissenschaften sind ebenfalls willkommen. Einen Leistungsnachweis kann erwerben, wer nach Absprache mit den Dozenten einen mündlichen Vortrag nebst schriftlicher Ausarbeitung zu einem der Texte oder einer übergreifenden, seminarbezogenen Fragestellung anfertigt. Die Arbeit sollte einen Umfang von ca. 20 Seiten haben und mit einem wissenschaftlichen Fußnotenapparat sowie einer Bibliographie versehen sein. Einzelheiten werden zu Beginn des Semesters gesondert besprochen. Zur Anmeldung und Vormerkung für eines der Seminarthemen wenden Sie sich bitte an Dr. Malte Gruber, RuW 3.145, oder schreiben Sie eine E-Mail an <gruber(at)jur.uni-frankfurt.de>.