„Es genügt nicht, Menschenfleisch herzustellen“. Der Rechtstheoretiker, Rechtshistoriker, Jurist Pierre Legendre

Gunther Teubner / Rudolf Wiethölter / Rainer Maria Kiesow

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Im Wintersemester 2004/2005 veranstalten wir
jeweils Mittwochs von 11:00 – 12:30 Uhr im Juridicum R 316 ein

(privat)rechtstheoretisches Seminar zum Thema:

 

„Es genügt nicht, Menschenfleisch herzustellen“.
Der Rechtstheoretiker, Rechtshistoriker, Jurist Pierre Legendre


Warum Gesetze? „Pourquoi des lois?“ lautet die zentrale Frage Pierre Legendres seit Beginn der Lektionen, die er seinen Studenten in Paris hält und anschließend dem Lesepublikum anbietet. Sie betrifft das Fundament des Rechts und ist heute so irritierend wie virulent, in einer Zeit, deren Genossen zum einen die Proliferation von Gesetzen und Verordnungen betreiben - Verrechtlichung -, zum anderen das Recht im lecken Boot auf dem Meer der privatkonzertierten Verträge, die das Procedere einer global operierenden, staatenlosen Ökonomie kennzeichnen, treiben sehen - Tod des Rechts. In einer Zeit, die Legendre als eine selbstvergessene sieht. Die traditionellen „Montagen“ sind erschüttert. Die alten religiösen, mythologischen, poetischen Metaphern, die symbolischen Konstruktionen gelten als verbraucht. Es triumphieren Management, Regulierbarkeit, (Sozial-, Bio-)Technologie und Wissenschaft - oder Postmoderne und Dekonstruktion, die ein „Debakel des Denkens“ darstellen. Scientistische Attitüde und normativer Nihilismus haben die Symbolik ausgelöscht.

Und wenn deren Zerstörung das Leben bedrohte? Wenn das Wissen uns das Ich nähme? „Je mehr wir erklären können, desto unschuldiger werden wir“. Schuld, Verantwortung, sind dies nicht die vor Jahrhunderten im Mittelalter von Juristen-Theologen initiierten Schöpfungen, Errungenschaften, die das Subjekt über das Verbot an das Vernunftprinzip gebunden und es so als Subjekt im modernen, individualistischen Sinne erst konstituiert haben? Unschuldig, wenn man einen Mord begangen hat, bedeutet krank, bedeutet Einweisung in die Psychiatrie - nach den Regeln der Zurechnungsfähigkeit im Strafrecht. Macht das erklärende Wissen uns zu unschuldigen Tätern, die in der Luxusanstalt Westliche Industriegesellschaft soigniert leben?

„Die Macht stirbt nicht. ... Wenn sie nicht im Zaum gehalten wird, wird sie zum Terror, unter dem die Regierten verbluten“. Hier bekommt man eine Ahnung von dem, was Legendre zur Frage „Warum Gesetze?“ geführt hat - und warum das Recht im Zentrum seiner Arbeiten steht. Gegen die Sicherheiten einer industriell-wissenschaftlichen „Ultramoderne“ setzt er die Sprache der Juristen, die juristische Interpretation, die jedoch eine starke Normativität voraussetzt. Oder besser: „institutionelle Einrichtungen“. Der Vater ist eine solche Institution. Auch mit ihm geht die „ultramoderne“ Gesellschaft nicht pfleglich um. Aber: „Wie soll man die Agglomerationen von selbstgegründeten Individuen, von zu Klein-Staaten beförderten Majestäts-Subjekten, die Massen von Söhnen, die vom Glauben an den Vater definitiv befreit sind, ‘regulieren’?“ Diese Frage wird heute nicht selten mit Autopoiesis beantwortet. Das heißt mit der Zerstörung der Frage, indem die nicht auf äußere - kausale - Effekte begründete Selbstorganisation(skraft) autonomer gesellschaftlicher Subsysteme in den Vordergrund gerückt wird. Doch schickt man damit die Menschen(söhne) nicht in die „Hölle derjenigen, die keinen Platz und keinen Ort haben“? Der Glaube an den Vater wies einst Orte und Plätze zu. Als Mythos - denn: pater semper incertus - begründete er die soziale und subjektive Rationalität und gab als „mythologisches Band“ jedem den Zugang zur eigenen Identität. Damit einher ging „für jedes neu in die Menschheit angekommene Wesen die Mobilisierung des gesamten institutionellen Gefüges“, deren Fehlen heute „Behinderte und Versehrte hervorbringt“.

Pierre Legendre fragt nach den Gesetzen, dem Vater, Mord und Wahnsinn, dem Psy-Bereich, den Institutionen, dem genealogischen Prinzip und nach der Kraft von Dogmatik, der Macht juristischer Konstruktion, nach der Einrichtung des Normativen.

Die Antworten dieser juristischen Spielart von French Theory sind Gegenstand des Seminars. Gelesen und diskutiert werden auf Deutsch vorliegende Texte von Pierre Legendre sowie einige Analysen. Außerdem werden zwei Filme von Legendre gezeigt (Beginn 27.10.2004, 11 Uhr).


Seminarplan

1.     27.10.2004 – Impuls: Marcus Kieper
P.L., Die Bresche. Bemerkungen zur institutionellen Dimension der Shoah  (Tumult. Schriften zur Verkehrswissenschaft 26, 2001, S. 25-32)

2.      03.11.2004 – Impuls: David Wenger
Anton Schütz, Sons of the Writ, Sons of Wrath: Pierre Legndre’s Critique of Law-Giving  (P.Goodrich/D.G.Carlson [ed.], Law and the Postmodern Mind. Essays on Psychoanalysis and Jurisprudence, University of Michigan Press 1998, S. 193-222)

3.      10.11.2004 – Impuls: Fabian Steinhauer
Gespräch mit P.L.: „Der ‚Take-Off“ des Westens ist ein Gerücht“ (Tumult. Schriften zur Verkehrswissenschaft 26, 2001, S. 102-118)

4.      17.11.2004 – Impuls: Susana Campos Nave
P.L., Der mordende Mensch (ders., Die Fabrikation des abendländischen Menschen, Turia und Kant: Wien 1999, S. 37-61)

5.      24.11.2004 – Impuls: Malte Gruber
P.L., Das Verbrechen des Gefreiten Lortie. Abhandlung über den Vater, Erstes Kapitel (Rombach: Freiburg 1998)

6.      01.12.2004 – Impuls: Georg Lützinger
P.L., Das Verbrechen des Gefreiten Lortie, Zweites Kapitel

7.      08.12.2004 – Impuls: Richard Schreiber
P.L., Das Verbrechen des Gefreiten Lortie, Drittes Kapitel

8.      15.12.2004 – Impuls: Silke Sauter
P.L., Das Verbrechen des Gefreiten Lortie, Viertes Kapitel

9.      12.01.2005 – Impuls: Gunther Teubner
P.L., Das Verbrechen des Gefreiten Lortie, Fünftes Kapitel

10.    19.01.2005 – Impuls: Timo Kost
P.L., Die Fabrikation des abendländischen Menschen, Film von 1996 (Begleittexte: P.L., Die Fabrikation des abendländischen Menschen, Turia und Kant: Wien 1999, S. 11-36
Anton Schütz, Die Institution erhören. Echographik des gewöhnlichen Fanatismus, in: Rechtshistorisches Journal 17, 1998, S. 311-333)

11.    26.01.2005 – Impuls: Oliver Brupbacher
P.L., Spiegel einer Nation. Die École Nationale d’Administration, Film von 1999 (Begleittext: Manfred Schneider, Was verwaltet die Verwaltung?, in: Rechtshistorisches Journal 19, 2000, 288-294)

12.a - Dienstag, 01.02.2005 (16.15 Uhr, Vortragssaal, MPI für Europäische Rechtsgeschichte, Hausener Weg 120, Frankfurt am Main,  http://www.mpier.uni-frankfurt.de): 
Vortrag von Dr. Anton Schütz (Paris/London): "Der westliche "nomos heautontimoroumenos" und die Grundlagen der abendländischen Rechtssaga: europäische Rechtsgeschichte in lockerem Anschluss an Legendre"

12b. - Mittwoch, 02.02.2005 - Impuls: Andreas Fischer-Lescano
Anton Schütz, Thinking the Law with and against Luhmann, Legendre, Agamben (Law and Critique 11, 2000, S. 107-136)
Anton Schütz wird anwesend sein.

13.    09.02.2005 – Impuls: Jan Lüsing
P.L., "Die Juden interpretieren verrückt." Gutachten zu einem klassischen Text, in: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendung 43 (1989), S. 20 ff.

Organisatorisches: Ab 21. September können Sie den Seminarreader für ca. 10,- Euro im Kopierwerk, Adalbertstrasse, erwerben.

Zur Anmeldung zum Seminar und zur eventuellen Vormerkung für eine der ca. 10-15 minütigen Einführungen ("Impulse") in den für die betreffende Sitzung angegebenen Text wenden Sie sich bitte an Dr. Andreas Fischer-Lescano, Zi. 317 Juridicum, oder schreiben eine email. Einen Seminarschein kann erwerben, wer nach Absprache mit den Dozenten eine schriftliche Arbeit zu einem der Texte oder einer übergreifenden, seminarbezogenen Fragestellung anfertigt. Die Arbeit sollte 15 Seiten haben und mit einem wissenschaftlichen Fußnotenapparat sowie einer Bibliographie versehen sein.