Aktuelles Projekt im Rahmen des LOEWE-Schwerpunktes "außergerichtliche und gerichtliche Konfliktlösung":


Alternative Streitbeilegung und das Rechtsstaatsprinzip in den USA – ADR and the Rule of Law

Joachim Zekoll

  Bei der Betrachtung der US-amerikanischen Rechtspraxis stehen häufig aufsehenerregende Gerichtsentscheidungen im Mittelpunkt. Insbesondere Zivilprozesse und ihre Folgen bestimmen dabei das Bild: Es geht z.B. um Klagen in Millionenhöhe, die von Betroffenen ohne eigenes nennenswertes Kostenrisiko (American rule of costs, contingency fee arrangements), aus vermeintlich nichtigen Anlässen erhoben werden sowie von Laienrichtern getroffene Entscheidungen (jury verdicts), die zu Gunsten dieser Kläger Urteilssummen in Millionenhöhe auskehren.

 Weniger beachtet wird, dass die Zahl derartiger Entscheidungen im Verhältnis zur Gesamtzahl aller rechtlichen Konflikte eher als gering einzuschätzen ist. Dieser Befund ergibt sich erstens daraus, dass eine Vielzahl von Rechtstreitigkeiten nicht mit spektakulären Entscheidungen endet – in etwa der Hälfte aller Fälle obsiegt ohnehin die beklagte Partei.[1] Bemerkenswerter ist zweitens die große Zahl von Vergleichen, die vor oder während der Durchführung des Verfahrens (insges. mehr als 90%) geschlossen werden.[2] Drittens darf auch die bisher hauptsächlich im kleinen Kreis der Rechtsempiriker gehandelte Tatsache nicht unterschlagen werden, dass viele mögliche Gerichtsverfahren in den USA gar nicht erst anhängig gemacht werden.[3] Die Gründe, die zur vorzeitigen Beendigung oder gar Vermeidung von Verfahren führen, sind vielfältig, und das jeweilige Zusammenspiel von Faktoren, das notwendig ist, um diese Folgen zu produzieren, ist komplex.[4] Auch die qualitative Bewertung dieser Phänomene (z.B.: ist ein Vergleich „gerecht“?) fällt schwer. Einigkeit besteht darüber, dass die gegenwärtigen Kostenstrukturen, die in Fällen mit hohen Streitwerten Anreize zur Geltendmachung von Ansprüchen schaffen, in den vielen Fällen, in denen es um kleine Streitwerte geht, das Gegenteil bewirken, nämlich den Zugang zum Recht behindern.[5]

 Dieses Rechtsschutzdefizit liefert einen wesentlichen Grund dafür, dass sich in der amerikanischen Zivilrechtspraxis und in vielen anderen Bereichen (z.B. im öffentlichen Recht und Arbeitsrecht) zunehmend alternative gerichtsnahe, aber auch gänzlich außergerichtliche Streitbeilegungs- (negotiation, mediation) und Streitentscheidungsmechanismen (arbitration) etabliert haben, die das klassische Gerichtsverfahren zunehmend ablösen oder ergänzen. Mit ursächlich für diese Entwicklung ist darüber hinaus die verbleibende, notorische Überlastung der Gerichte; denn selbst nach Abzug der außergerichtlich erledigten Rechtsstreitigkeiten reichen die Kapazitäten in vielen Gerichtsbezirken kaum noch, effektiven (d.h. insbesondere zeitlich angemessenen) Rechtsschutz in den anhängigen Verfahren zu gewährleisten. Unter der Überschrift „Alternative Dispute Resolution“ (ADR) ist in den letzten drei Jahrzehnten deshalb auch eine große Zahl alternativer Streitschlichtungs- und Streitentscheidungsverfahren  entstanden, die von den nationalen und einzelstaatlichen Justizverwaltungen gefördert oder selbst geschaffen wurden.[6]

 Die Bedeutung von ADR in den USA steigt stetig, und zwar sowohl in Bezug auf die zuletzt genannten gerichtsassoziierten Instrumente als auch für die auf reiner Privatinitiative beruhenden gerichtsexternen Verfahren. Diesem Erfolg steht jedoch auch zunehmend Kritik gegenüber, die auf unterschiedliche Aspekte und Folgen dieser Entwicklung zielt, im Kern aber die Preisgabe von Rechtsstaatlichkeit (rule of law) bzw. die Inkaufnahme demokratietheoretischer Defizite reklamiert. Zentraler Ausgangspunkt ist die Annahme, dass das staatliche Normengerüst (Verfassung, einfache Gesetze, Fallrecht) Werte repräsentiere und entsprechende Verhaltens- bzw. Verfahrensstandards oktroyiere, die für ein Mindestmaß an Ausgleich gegenüber bestehenden Macht- und Informationsasymmetrien sorge.[7] Dadurch, dass private Streitbeilegungsmechanismen an die Stelle förmlicher und regelgebundener staatlicher Verfahren treten, werden diese kompensatorischen Kräfte dezimiert. Aus deutscher Sicht lässt sich diese Einbuße etwa mit der Nichtbeachtung von § 139 ZPO (richterliche Hinweispflichten) im Mediationsverfahren illustrieren.[8]

Kritisch werden auch die Konsequenzen betrachtet, die sich aus dem Ausschluss der Öffentlichkeit, einem Wesensmerkmal aller ADR-Verfahren, ergeben können. Die durch ADR einsetzende Privatisierung von Rechtsschutz – das heißt in diesem Zusammenhang: unveröffentlichte Entscheidungen von Schiedsgerichten und vertrauliche Einigung qua Konsens in Mediationen – könnte zu einem Verlust an öffentlich zugänglichen Judikaten führen. Bestehendes, demokratisch legitimiertes Recht geriete in Gefahr zu verkümmern, weil es nicht mehr Gegenstand von (gerichts-) öffentlicher Auslegung, Anwendung und Diskurs wäre.[9] Staatlich gesetztes Recht würde auf diese Weise seine Bedeutung als Ordnungs- und Orientierungskriterium verlieren.[10]

 Über diese Kritik wird in den Vereinigten Staaten heftig gestritten. ADR- Protagonisten fordern mehr Differenziertheit, z.B. in der Frage, ob die außergerichtliche Streitbeilegung nicht jedenfalls in bestimmten Anwendungskategorien das angemessenere Verfahren zur Förderung des Rechtsfriedens ist und mit dem Hinweis darauf, dass gerichtsassoziierte Verfahren gerichtliche Kontrolle nicht gänzlich ausschließen. Auch die privatautonomen Gestaltungsfreiheiten im Umgang mit Konflikten werden betont, ebenso wie die Entlastung staatlicher Gerichte und die damit einhergehende Erhaltung oder Wiederherstellung effektiven Rechtsschutzes.[11]

 Ziel des Teilprojekts ist es, die konträren Positionen im amerikanischen Diskurs eingehend zu untersuchen,[12] um grundsätzliche Erkenntnisse zu gewinnen über das diffizile Verhältnis von alternativen Streitbeilegungsmethoden zum staatlichen Verfahren, das den verfassungsrechtlich garantierten Justizgewährungsanspruch verwirklichen soll. Die Ergebnisse der Untersuchung könnten auch für die jüngere deutsche Diskussion von Interesse sein. Hierzulande waren insbesondere die unterschiedlichen Formen von Mediation bislang größtenteils gesetzlich ungeregelt. Dieser Zustand hat sich durch das in Kraft treten des Mediationsgesetzes am 26. Juli  2012[13] geändert. Das Gesetz beruht auf der europäischen Meditationsrichtlinie[14]. Es regelt allerdings recht allgemein nur Eckpunkte und lässt viel Raum für die konkrete Ausgestaltung und institutionelle Einbettung des Verfahrens. Trotz unterschiedlicher rechtlicher und institutioneller Ausgangsbedingungen in den USA dürften sich der Fundus praktisch-empirischer Erfahrungen und die Qualität des wissenschaftlichen Diskurses als verwertbar für die hierzulande gerade einsetzende Debatte erweisen.

Arbeitshypothesen

 In den Vereinigten Staaten hat ADR, insbesondere das Institut der Mediation in seinen unterschiedlichen Ausprägungen, das streitige Gerichtsverfahren in bestimmten Kategorien (z.B. bei kleinen, nicht Sammelklagen fähigen Streitwerten) in den Hintergrund gedrängt.  Diese Entwicklung ist den systembedingten Schwächen der staatlichen Gerichtsbarkeit geschuldet. Die These, „dass sich außergerichtliche Streitbeilegungsmechanismen immer auch in Abhängigkeit von Leistungen und Defiziten der staatlichen Justiz entwickeln“, (Bälz) gilt daher auch für die USA, ebenso wie die Folgerung, dass mit angemessenen Kontrollen dieser Privatisierungstendenzen die Aushöhlung der staatlichen Justizgewähr zu vermeiden ist.

 Die große Vielfalt der amerikanischen Beispiele macht darüber hinaus deutlich, dass es sich um eine von Wechselwirkungen geprägte Beziehung zwischen „ADR and the Rule of Law“  handelt. Das ergibt sich u.a. unmittelbar aus den originären Zielen von ADR, Streit über privatautonome Konsensbildung zu schlichten, nachhaltig für Ergebnisakzeptanz und damit für Rechtsfrieden zu sorgen und dabei die Justiz zu entlasten. In bestimmten Kategorien (Beispiel: Familiensachen)  liegt es durchaus nahe, alternative, nicht streitige Verfahren a priori als geeigneter zu bewerten. Neuere  Aufgabenbereiche, wie das sog. negotiated rule-making, bei dem es nicht um klassische Streitschlichtungsstrategien geht, sondern um Kommunikation, Teilhabe und Kompromiss im Verhältnis von Normgeber und Normadressaten, unterstreichen das legitimatorische Potential nichtstaatlichen Handelns.    

[1] T. Eisenberg, Litigation Outcomes in State and Federal Court: A Statistical Portrait, 19 Seattle U. L. Rev. 433, 437 (1996).

[2] J. Zekoll, Liability for defective Products, 50 Am. J. Comp. L. 121, 149 (2002).

[3] M. Galanter, Real World Torts: An Antidote to Anecdote, 55 Md. L. Rev. 1093, 1099-1102 (1996).

[4] Zekoll (Fn. 2), 149 f.

[5] T. Finney, Expanding Social Justice through the People's Court, 39 Loy. L.A. L. Rev. 769, 778 (2006).

[6] R. Kulms, Alternative Streitbeilegung durch Mediation in den USA, in: K.J. Hopt /F. Steffek (Hrsg.), Mediation, Rechtstatsachen, Rechtsvergleich, Regelungen, 410 (2008).

[7]O. Fiss, Against Settlement, 93 Yale L.J. 1073 (1984)

[8] Dazu J. Seybold, Mediation und gerichtliches Verfahren : Leistungspotenziale von Mediation und zivilgerichtlichem Verfahren im Vergleich; unter Berücksichtigung aktueller Verrechtlichungs- und Vergerichtlichungstendenzen der Mediation, 72, 84 (2008).

[9] D. Luban, Settlements and the Erosion of the Public Realm, 83 Geo. L. J. 2619 (1995).

[10] Aus deutscher Sicht Seybold (Fn. 8), 69 f.

[11] Zu diesen und weiteren Argumenten siehe jüngst nur die Beiträge von R.C. Reuben, M. Moffitt, und Wayne D. Brazil in ADR and the Rule of Law, 16 Dispute Resolution Magazine, 4 ff. (2010).

[12] Aus einem vorwiegend rechts-ökonomischen Blickwinkel dazu R. Kulms, Mediation zwischen effizientem Rechtsschutz und Privatisierung der Justiz, in: K.J. Hopt /F. Steffek (Hrsg.), Mediation, Rechtstatsachen, Rechtsvergleich, Regelungen, 923 ff. (2008).

[13] Bundesgesetzblatt Jahrgang 2012 Teil I Nr.35 http://www.bgbl.de/Xaver/text.xav?bk=Bundesanzeiger_BGBl&start=%2F%2F*%5B%40attr_id%3D'bgbl112s1577.pdf'%5D&wc=1&skin=WC

[14] Richtlinie 2008/52/EG über bestimmte Aspekte der Mediation in Zivil und Handelssachen, abgedruckt in: Amtsblatt der Europäischen Union vom 24.5.2008, L 136, 3 ff.

Prof. Dr. Joachim Zekoll, LL.M.
Universität Frankfurt
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